Politik Inland

Augen zu und durch? Warnungen vor Klinik-Notlagen

Samstag, 30. Oktober 2021 - 06:00 Uhr

von dpa

Am Freitag wurden 1808 Corona-Patienten auf den Intensivstationen verzeichnet. Foto: Fabian Strauch/dpa

Berlin (dpa) - Die Corona-Infektionen steigen wieder stark an - und das noch früher als vor einem Jahr: Zunehmend lauter werden deshalb die Warnungen vor erneuten Notlagen in den Kliniken und einer abwartenden Politik des Augen-zu-und-durch.

Das medizinische Personal sei an der Belastungsgrenze und niemand wolle erneut erleben, dass planbare Operationen abgesagt werden müssten, sagte Ärztepräsident Klaus Reinhardt der Deutschen Presse-Agentur. „Das sollten sich auch diejenigen vergegenwärtigen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, noch nicht geimpft haben.“ Reinhardt warb für Auffrischungsimpfungen und entschlossenes Handeln: „Noch ist die Situation beherrschbar.“

Der Chef des Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, kritisierte die Aufhebung der Maskenpflicht im Unterricht in einigen Bundesländern. Die Politik setze dort „gegen den ausdrücklichen Rat des in Deutschland für die Gefahrenabschätzung von Infektionskrankheiten zuständigen Robert-Koch-Instituts und die Mehrheit der Virologinnen und Virologen“ Lockerungen durch zu einem Zeitpunkt, an dem Gesundheitsschutzmaßnahmen eher zu intensivieren seien, sagte er der „Rheinischen Post“.

Die Vize-Vorsitzende des Ethikrats, Susanne Schreiber, sagte der Zeitung: „Auch wenn schwere Verläufe bei Kindern seltener auftreten, werden bei starkem Infektionsgeschehen Hunderte von Kindern von Komplikationen betroffen sein.“ Und: „Eine Augen-zu-und-durch-Mentalität reicht hier nicht aus.“

Kritik an Ausstattung der Schulen

Für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und den Verband Bildung und Erziehung (VBE) hängt eine Rückkehr zur Maskenpflicht von den örtlichen Inzidenzen ab. Beide Verbände pochen aber auf den flächendeckenden Einsatz von Luftfiltern an Schulen, um etwaige Coronaviren einzudämmen. Viele Schulen seien damit „immer noch nicht so ausgestattet, wie es notwendig ist“, sagte GEW-Chefin Maike Finnern dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). VBE-Präsident Udo Beckmann beklagte, dass erst an einem Viertel der Schulen überhaupt einzelne Luftfilter eingesetzt würden. „Das ist schlicht zu wenig.“

Viele Corona-Parameter liegen bereits deutlich höher als zur gleichen Zeit im Vorjahr: Heute Morgen meldete das Robert Koch-Institut (RKI) 21.543 Neuinfektionen, einen Sieben-Tage-Wert je 100.000 Einwohner von 145,1 und 90 neue Todesfälle. Am Freitag wurden 1808 Corona-Patienten auf den Intensivstationen verzeichnet. Zwar sind inzwischen auch zwei Drittel der Bevölkerung voll geimpft, entsprechend höher ist aber das Risiko durch und für Ungeimpfte. Um die Pandemie überhaupt eindämmen zu können, wäre laut RKI eine Impfrate von 85 bis 90 Prozent bei den über Zwölfjährigen nötig - ergänzt durch Auffrischungsimpfungen, um der nachlassenden Wirkung zu begegnen.

Drittimpfung für Ältere

Reinhardt als Chef der Bundesärztekammer sagte: „Die dritte Corona-Impfung kann gerade bei älteren und vorerkrankten Menschen das Infektionsrisiko erheblich reduzieren.“ Die Ständige Impfkommission (Stiko) habe deshalb klare Impf-Empfehlungen für Menschen ab 70 Jahre, Vorerkrankte und Menschen aus bestimmten Berufen ausgesprochen. Er rate Bürgerinnen und Bürgern aus diesen Gruppen dringend, Angebote für Drittimpfungen wahrzunehmen. „Neben Impfungen in den Praxen brauchen wir möglichst viele niedrigschwellige Impfangebote am Arbeitsplatz, in Pflegeheimen und in Seniorenbetreuungseinrichtungen“, sagte der Ärztepräsident.

Der Virologe Hendrik Streeck glaubt, dass sich der Pandemieverlauf in den Alten- und Pflegeheimen entscheidet. „Trotz der Impfung ist dort weiterhin der tödliche Hotspot der Pandemie. Das heißt vor allem: breitflächig eine Booster-Impfung anzubieten und in Alten- und Pflegeheimen konsequent und regelmäßig zu testen“, sagte er der „Welt am Sonntag“.

Acht Tote nach Ausbruch in Altenheim

Bestätigt sehen dürfte sich Streeck auch durch einen Corona-Ausbruch in einer Senioren-Residenz in Brandenburg, der einem Medienbericht zufolge bereits acht Bewohner das Leben gekostet hat. Insgesamt seien in der Einrichtung in Schorfheide am Werbellinsee 42 Bewohner und 15 Mitarbeiter an Covid-19 erkrankt, bestätigte das Gesundheitsamt des Landkreises Barnim dem Rundfunk Berlin-Brandenburg. Nur etwa 50 Prozent der Beschäftigten in dem Heim seien geimpft gewesen, deutlich weniger als unter den Bewohnern, sagte Amtsärztin Heike Zander dem Radiosender Antenne Brandenburg. Sie sei „unglücklich“ darüber, dass Impfungen in Pflegeeinrichtungen weiterhin freiwillig sind. „Das hat für mich auch was mit einer Berufseinstellung zu tun.“

Ärztevertreter übten derweil Kritik an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der darauf hingewiesen hatte, dass Auffrischungsimpfungen für Risikogruppen empfohlen, aber grundsätzlich für jeden möglich seien. „Wir sind verärgert, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Erwartungen schürt“, sagte Armin Beck, Vorstandsmitglied des Hausärzteverbands, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Die Hausärzte folgen der Empfehlung der Ständigen Impfkommission, und diese empfiehlt aktuell Drittimpfungen nur für über 70-Jährige und wenige andere Gruppen.“ Durch Spahns Äußerungen werde nun aber der Aufklärungs- und Diskussionsbedarf in den Praxen größer.

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