Corona-Proteste: Katz und Maus mit „Spaziergängern“

Berlin (dpa) - Fast jeden Tag jetzt dieses Katz-und-Maus-Spiel, diese neue Unübersichtlichkeit bei den Corona-Protesten auf Deutschlands Straßen. Auch am Montagabend waren wieder Tausende unterwegs. „Spaziergänger“, die sich auf Telegram verabreden, aber keine Demonstration anmelden.

Friedliche Gegner von Impfpflicht und Corona-Auflagen, die sich zu unrecht mit Rechtsextremisten in einen Topf geworfen sehen. Gegendemonstranten, die als letzte Bastion der Vernunft auftreten. Gerät der Rechtsstaat beim Versammlungsrecht an seine Grenzen im dritten Jahr der Pandemie?

Jörg Radek würde das so nicht stehen lassen. Der Vizechef der Gewerkschaft der Polizei formuliert es im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur lieber so: „Es ist eine polizeiliche Herausforderung, weil wir sehr kleinteilige Versammlungen haben an unterschiedlichen Orten, und wir versuchen müssen, gleichzeitig an diesen Orten zu sein.“ Wo die Polizei präsent sei, setze sie Recht durch. „Schwierig wird es, wenn man an einem Tag in Sachsen an 170 Orten gleichzeitig Versammlungen hat.“ Da müssten sich Landes- und Bundespolizei gegenseitig helfen.

Mehr als 1000 Protestaktionen gegen Corona-Maßnahmen vermerkte das Bundesinnenministerium Montag vor einer Woche bundesweit und 188.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Diesen Montag wieder: Tausende in Berlin, mindestens 21.000 in Thüringen, eingekesselte Demonstranten in Rostock. Lange schienen die Proteste vor allem ein ostdeutsches Ding - aber längst ähneln sich die Szenen in Hamburg oder Düsseldorf, Freiburg oder München.

Die Veranstaltungen würden immer kleinteiliger, die „Spreizung“ mache es den Behörden immer schwerer, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Deutschlandfunk. Demonstrieren könne man doch in angemeldeten Versammlungen. „Dafür muss ich nicht die Sicherheitsbehörden versuchen auszutricksen.“

Angemeldet werden die „Spaziergänge“ deshalb nicht, weil dann auch Auflagen erteilt werden können, etwa die Einhaltung von Abständen oder eine Maskenpflicht. Aber spazieren gehen darf jeder. Könnte man die Menschen nicht einfach laufen lassen? „Teils wird zunächst wirklich nur spaziert“, räumt Radek ein. „Aber es liegt ja in der Natur des Versammlungsrechts, dass man signalisieren will, wofür man demonstriert. Irgendwann kommt der Punkt, wo Parolen gebrüllt werden.“ Er nennt es perfide, dass Corona-Auflagen und der Infektionsschutz der Beamten bewusst missachtet würden.

„Wir treffen immer mehr gewaltbereite Teilnehmer, das Aggressionspotenzial steigt“, sagt die Rostocker Polizeipräsidentin Anja Hamann. Anfang Januar berichtete die Magdeburger Polizeiinspektion von Flaschenwürfen auf Beamte und dem Einsatz von Pyrotechnik. In Lichtenstein bei Zwickau verletzten gewaltbereite Demonstranten 14 Beamte. Vor einer Woche wurden neun Polizisten verletzt, so etwa in Bautzen, Braunschweig, Gera und Magdeburg. „Es wird gespuckt, körperlich attackiert, die Kollegen werden einer Infektionsgefahr ausgesetzt, Erwachsene gehen mit Kindern auf ihren Schultern dicht an die Polizeiketten heran, um zu provozieren“, weiß auch Gewerkschafter Radek.

Schlagen, Spucken, Provokationen mit Kindern: Wer geht da überhaupt auf die Straße? Die Frage stellt sich seit Monaten immer wieder neu. Inzwischen häufen sich Warnungen vor einer Unterwanderung durch Extremisten. Innenministerin Faeser spricht von einer Instrumentalisierung der Proteste. Diese zielten teils gar nicht auf die Corona-Maßnahmen, sondern gegen den Staat. Bei einer Berliner Demo am Montagabend hieß es: „Merkel, Spahn, Steinmeier, Drosten in den Knast“. Ein Redner schimpfte, die „deutschen Medien“ seien „gleichgeschaltet“ wie 1933.

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, sieht unter Corona-Demonstranten sogar eine neue Szene von Staatsfeinden, die Kategorien wie Rechts- oder Linksextremismus sprengen. „Sie lehnen unser demokratisches Staatswesen grundlegend ab“, sagte Haldenwang der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Zunehmend sei die Polizei Feindbild. „Einsatzkräfte werden nicht nur bei den Protesten, sondern auch im virtuellen Raum zunehmend angefeindet und beispielsweise als „Söldner“ oder „Mörder des Systems“ diffamiert.“

Mit Extremisten habe man rein gar nichts zu tun, betonten hingegen die Organisatoren von #friedlichzusammen bei einer Demonstration am Wochenende in Berlin. Ausdrücklich distanzierten sie sich von „Nazis, Antisemiten, Holocaust-Leugnern und allen extremistischen Weltanschauungen“. Sie wandten sich gegen Beschränkungen für Ungeimpfte wie 2G oder 3G und gegen eine mögliche Impfpflicht. Bilder der Demo zeigten friedliche Menschen in Daunenmänteln. Transparente warnten aber auch hier vor angeblich manipulierten Medien und einer angeblichen „Diktatur“.

Solche Diktatur-Vergleiche wiederum regen nicht nur die Berliner Pfarrerin Aljona Hofmann auf. Sie spricht für die Gethsemanekirche, zu DDR-Zeiten ein Treffpunkt der demokratischen Opposition. „2022 ist nicht 1989“, betonte Hofmann vor einigen Tagen in einem Tweet und berichtete von Störungen bei Andachten „durch Pöbeleien bis hin zum Hitlergruß“. Immer wieder montags mobilisiert die Initiative Gethsemanekiez gegen „Diktatur-Verharmloser und Corona-Protestler“.

Solche Gegeninitiativen gibt es nun vielerorts. In Sachsen gründeten sich „Bautzen gemeinsam“ oder „#Wir lieben Freiberg“ gegen rechtsextreme Proteste. In Jena demonstrierten am Montag Dutzende Menschen unter dem Motto „Ausspaziert“ und trafen auf etwa gleich viele Gegner der Corona-Maßnahmen. Ähnliche Gemengelage schon am Wochenende in Freiburg in Baden-Württemberg: Erst 2500 Menschen gegen Corona-Verharmlosung, dann 6000 Menschen gegen Impfzwang.

Mittendrin steht die Polizei. „Dass es Demonstrationen und Gegendemonstrationen gibt, ist kein neues Phänomen“, sagt Radek. „Wir als Polizei müssen erkennen: Wer sind die, die den Staat provozieren wollen?“