Kultur

Münchner Lyrik Kabinett wird 30

Donnerstag, 17. Oktober 2019 - 08:37 Uhr

von Von Elke Richter, dpa

Rund 65.000 Medien befinden sich im Lyrik Kabinett. Foto: Sven Hoppe/dpa

München (dpa) - Gedichte können den Finger in die Wunde legen, Licht ins Dunkel bringen, Seelenschmerz lindern oder einfach nur unterhalten. In der Literaturwelt führen sie trotz der Vielseitigkeit ein Nischendasein. In München aber gibt es einen Ort, der von und für Poesie existiert.

Es ist ein verwunschener Ort mitten in München, wie gemacht, um dem Brausen der Großstadt zu entfliehen: Nur wenige Schritte vom verkehrsumtosten Siegestor entfernt versteckt sich in einem Hinterhof ein von Efeu und Bäumen umrahmtes Gebäude mit einladenden Glasfronten.

Nur ein unscheinbares Schild über der Toreinfahrt weist auf seine Existenz hin, doch schon im Durchgang verzögern Gedichtzeilen an den Wänden die Schritte. Sie führen den Besucher zum Eingang des Lyrik Kabinetts - einem der wichtigsten Orte für Poesie in Deutschland und Europa. Es feiert in diesem Jahr seinen 30. Geburtstag.

Die von einer privaten Stiftung getragene Einrichtung vergleicht sich selbst ganz unbescheiden mit den Poesiezentren anderer Länder, wie den französischen Maisons de la Poésie oder der Londoner National Poetry Library. Doch auch der Werbung völlig unverdächtige Experten stimmen dieser Einschätzung zu. Denn die öffentlich zugängliche Bibliothek, das Herz des Lyrik Kabinetts, ist mit mehr als 65.000 rein auf Poesie konzentrierten Medien die zweitgrößte Spezialsammlung Europas.

Dass ihre Leidenschaft für Gedichte einmal solche Kreise ziehen würde, hätte Ursula Haeusgen nie gedacht. Sie eröffnete 1989 einen auf Lyrik und Künstlerbücher spezialisierten Buchladen, in dem von Anfang an Lesungen stattfinden. Er ist der Ursprung des heutigen Lyrik Kabinetts, auch wenn der gleichnamige Laden so schlecht läuft, das er nach nur drei Jahre wieder geschlossen wird. Doch ein eigens gegründeter Vorläufer des heutigen Freundeskreises übernimmt die Bestände der Buchhandlung und führt die Lesungen fort.

2003 folgt dann der entscheidende Schritt: Haeusgen, die aus einer erfolgreichen Unternehmerfamilie stammt, gründet die Stiftung Lyrik Kabinett, aus deren Erträgen heute die laufenden Kosten finanziert werden. Zwei Jahre später wird das eigens gebaute Gebäude bezogen.

Haeusgen, inzwischen 77 Jahre alt, hat sich 2010 aus der operativen Leitung zurückgezogen. Vorsitzende des Stiftungsvorstands ist sie aber weiterhin, und bekommt sie ein ihr bislang unbekanntes Exponat aus der Sammlung in die Finger, ist ihre ungebrochene Leidenschaft für Lyrik unübersehbar. „Tröstlich“ findet sie Gedichte, „manchmal auch klug, ansonsten klingt es schön, manche sind auch lustig“. Doch das ist nicht alles: „Mir ist wichtig, dass das Gedicht Aussagen macht, mit denen man was anfangen kann. Manchmal ist es auch der Ton, nicht der Inhalt. Auf jeden Fall ist in einem Gedicht mehr drin, als allgemein angenommen wird.“

Der Lesestoff wird ihr nicht ausgehen, sammelt die Stiftung doch seit ihrer Gründung sämtliche auf Deutsch erscheinende oder ins Deutsche übersetzte Lyrik mit Vollständigkeitsanspruch, sofern diese nicht in Eigen-Verlagen erscheint. Auch wichtigere ältere Werke stehen auf der Einkaufsliste, hinzu kommen ausgewählte Veröffentlichungen in rund 90 weiteren Sprachen.

„Es ist schon phänomenal, was da an Büchern zu finden ist“, urteilt der Lyrik-Spezialist Waldemar Fromm von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, der selbst ausgesprochen gerne in diesem „Begegnungsort für Lyrik“ zu Gast ist. Auch der Heidelberger Lyrik-Experte Michael Braun ist voll des Lobes: „Das ist einfach eine epochale Leistung, die Frau Haeusgen da vollbracht hat.“

Zwar würden die aktuellen Debatten und Diskurse innerhalb der Lyrikszene eher im Berliner Haus der Kunst, dem zweiten Poesie-Zentrum in Deutschland, angestoßen und geführt. Doch das neben der umfangreichen Bestandsbibliothek zweite Alleinstellungsmerkmal des Lyrik Kabinetts, die rein durch Mäzenatentum getragene und damit unabhängige Finanzierung, gebe der Poesie seit nunmehr 30 Jahren mit großer Beständigkeit eine Plattform, die weithin beachtet werde.

Deshalb reißen sich auch die Autoren darum, im Lyrik Kabinett ihre Gedichte lesen zu dürfen, wie Braun berichtet. Nicht nur, weil sie sich damit einer illustren Reihe anschließen, der selbst Nobelpreisträger angehören. Sondern auch wegen einer weiteren Besonderheit der Szene-Institution: „Das Verblüffende am Lyrik Kabinett ist, dass es dort immer 60 bis 70 Zuhörer gibt, selbst bei völlig entlegenen Projekten, Gedichtbänden oder unbekannten Autoren.“

60 bis 70, das klingt nicht viel. Selbst der aktuelle Besucherschnitt aus dem laufenden Jahr von 85 Gästen pro Veranstaltung scheint wenig. Es ist aber eine stolze Anzahl, wenn man bedenkt, dass selbst die bekannteren zeitgenössischen Dichter höchst selten mehr als 800 Exemplare ihrer Gedichtbände verkaufen - und bei Lesungen immer wieder vor weitgehend leeren Stuhlreihen auf Zuhörer warten.

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