Autorenikone Rushdie an Beatmungsgerät angeschlossen

Autorenikone Rushdie an Beatmungsgerät angeschlossen

Videostandbild vom Moment nach der Attacke in der Chautauqua Institution: Der mutmaßliche Angreifer (l) wird von der Bühne eskortiert, während sich Menschen um Salman Rushdie kümmern. Foto: Uncredited/AP/dpa

Chautauqua (dpa) - Schriftstellerikone Salman Rushdie ist bei einer Lesung im Ort Chautauqua im Westen des Bundesstaates New York angegriffen und schwer verletzt worden. Ein Mann sei in der Veranstaltungshalle „auf die Bühne gerannt“ und habe Rushdie und einen Interviewer angegriffen, teilte die New Yorker Polizei mit. Der 75-Jährige sei mindestens einmal in den Hals und den Bauch gestochen worden.

Der Schriftsteller werde in einem örtlichen Krankenhaus weiterhin operiert, hieß es weiter. Er wurde seinem Manager zufolge an ein Beatmungsgerät angeschlossen, könne nicht sprechen und werde wahrscheinlich ein Auge verlieren, schrieb Andrew Wylie nach Angaben der „New York Times“. Nervenstränge in seinem Arm seien durchtrennt und seine Leber beschädigt worden. „Die Nachrichten sind nicht gut.“

Die New Yorker Gouverneurin Kathy Hochul sagte in der Stadt Buffalo, Rushdie bekomme im Krankenhaus die Hilfe, die er benötige. „Es war ein staatlicher Polizist, der aufstand und sein (Rushdies) Leben rettete, ihn beschützte“, sagte sie und dankte dem Helfer. Rushdie war zuvor mit einem Hubschrauber in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht worden.

Die Polizei identifizierte den Angreifer als einen 24-jährigen Amerikaner aus New Jersey. Er handelte ersten Erkenntnissen zufolge wohl ohne Komplizen. „An diesem Punkt gehen wir davon aus, dass er allein war, aber wir versuchen sicherzustellen, dass dies der Fall war“, so ein Polizeisprecher. Am Tatort sei ein Rucksack sichergestellt worden. Auch ersuche man eine Reihe von Durchsuchungsbefehlen.

Der Täter war nach dem Angriff am Freitag noch in der Halle festgenommen worden. Die „New York Times“ zitierte eine Zeugin: „Es gab nur einen Angreifer. Er war schwarz gekleidet. Er hatte ein loses schwarzes Kleidungsstück an. Er rannte blitzschnell auf ihn zu.“ Der ebenfalls angegriffene Interviewer hat nach Polizeiangaben eine Kopfverletzung.

Ob der Angriff im Zusammenhang mit der jahrzehntealten Fatwa steht, blieb zunächst offen. Wegen Rushdies Werks „Die satanischen Verse“ („Satanic Verses“) aus dem Jahr 1988 hatte der damalige iranische Revolutionsführer Ajatollah Khomeini ein islamisches Rechtsgutachten veröffentlicht, das zur Tötung des Autors aufforderte. Einige Muslime fühlten sich durch das Werk in ihrem religiösen Empfinden verletzt. Khomeini rief damals nicht nur zur Tötung Rushdies auf, sondern auch all derer, die an der Verbreitung des Buches beteiligt waren. Ein japanischer Übersetzer wurde später tatsächlich getötet. Rushdie musste untertauchen, erhielt Polizeischutz.

Nach Angaben seines Verlags aus dem vergangenen Jahr hätte die Fatwa für Rushdie inzwischen aber längst keine Bedeutung mehr. Er sei nicht mehr eingeschränkt in seiner Bewegungsfreiheit und brauche auch keine Bodyguards mehr. Die Jahre des Versteckens gingen jedoch nicht spurlos an ihm vorüber. Er verarbeitete diese Zeit in der nach seinem Aliasnamen benannten Autobiografie „Joseph Anton“ aus dem Jahr 2012.

Vor wenigen Tagen noch hatte Rushdie dem Magazin „Stern“ gesagt, dass er sich in den USA sicher fühle. „Das ist lange her“, sagte Rushdie im Interview mit Korrespondent Raphael Geiger Ende Juli auf die Frage, ob er noch immer um sein Leben bange. „Für einige Jahre war es ernst“, sagte Rushdie weiter. „Aber seit ich in Amerika lebe, hatte ich keine Probleme mehr.“ Der Autor habe dabei aber auch vor dem politischen Klima und möglicher Gewalt in den USA gewarnt: Das Schlimme sei, „dass Morddrohungen alltäglich geworden sind“.

Die Tat löste weltweit Entsetzen aus. Der US-Senator und Mehrheitsführer der Demokraten im Senat, Chuck Schumer, schrieb auf Twitter, die Tat sei ein „Angriff auf die Rede- und Gedankenfreiheit. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schrieb, Rushdie sei von „Hass und Barbarei“ getroffen worden.

Großbritanniens scheidender Premier Boris Johnson zeigte sich entsetzt darüber, dass Rushdie „bei der Ausübung eines Rechts, das wir immer verteidigen sollten, niedergestochen wurde“.“

Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) bezeichnete die Attacke als Angriff auf die Freiheit der Literatur und die Freiheit des Denkens. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) zeigte sich erschüttert und wünschte Rushdie gute Besserung. Der Grünen-Co-Vorsitzende Omid Nouripour schrieb von der schlimmsten „Frucht eines Hasses, der seit Jahrzehnten vom iranischen Regime geschürt und finanziert wird.“ Schriftsteller Günter Wallraff, der Rushdie 1993 in seinem Haus in Köln-Ehrenfeld versteckt hatte, sagte, die Nachricht sei „natürlich ein Schlag für mich“ gewesen.

Geboren wurde Rushie im Jahr der indischen Unabhängigkeit 1947 in der Metropole Mumbai (damals Bombay). Er studierte später Geschichte am King's College in Cambridge. Seinen Durchbruch als Autor hatte er mit dem Buch „Mitternachtskinder“ („Midnight's Children“), das 1981 mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet wurde. Er erzählt darin die Geschichte von der Loslösung Indiens vom Britischen Empire anhand der Lebensgeschichte von Protagonisten, die genau zur Stunde der Unabhängigkeit geboren werden und mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet sind.

Insgesamt veröffentlichte Rushdie mehr als zwei Dutzend Romane, Sachbücher und andere Schriften. Rushdies Stil wird als Magischer Realismus bezeichnet, in dem sich realistische mit fantastischen Ereignissen verweben. Dennoch sieht er sich unbedingt der Wahrheit verpflichtet.

Diese sieht er zunehmend in Gefahr, was auch im Zentrum seiner jüngsten Veröffentlichung von Essays steht, die in Deutschland unter dem Titel „Sprachen der Wahrheit“ herauskamen. Der seit vielen Jahren in New York lebende Schriftsteller stemmt sich darin gegen Trumpisten und Corona-Leugner. „Die Wahrheit ist ein Kampf, das ist keine Frage. Und vielleicht noch nie so sehr wie jetzt“, sagte er in einem Interview des US-Senders PBS im vergangenen Jahr.

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